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Hair

Maxi Pongratz

Ich bin Maxi Pongratz, 35 Jahre, Musiker. Geboren und aufgewachsen in Oberammergau und inzwischen ist mein Lebensmittelpunk München.
Für euch Basler/Leser*innen, die ihr mich nicht kennt, ist es ja egal. Für die, die mich kennen: ich bin`s.

Gerade bin ich sehr kahl im Gesicht. Mir fehlt aber nichts weiter. Ich mache keine Chemo, wiege so viel wie sonst, auch wenn ich von Leuten häufiger darauf angesprochen werde, dass ich so hager bin.
Alopecia areata heißt das, was ich habe.
‚Alopecia areata’ könnte auch der botanische Name für eine seltene Pflanze sein. Doch es ist einfach nur die Bezeichnung für einen lästigen, besonderen Haarausfall. Er tut nicht weh, aber irgendwie auch schon.

Vor kurzem wollte mir eine Frau nach dem Konzert eine Platte abkaufen, aber die, die ich ihr geben wollte, wollte sie nicht. Weil: „ Sie will ja eine Platte von mir und nicht von dem, der da vorne drauf ist.“

Alopecia areata kommt aus heiterem Himmel. Die Ursache ist nicht geklärt. Was man weiß ist nur, dass es eine autoimmune Krankheit ist, bei der sich der Körper gegen die Haare richtet, aber zum totalen Haarverlust kommt es nicht bei allen. Größer und kleiner werdende, kreisrunde, kahle Flecken begleiten mich schon seit ich 23 Jahre alt bin. Aber im vergangenen Herbst waren sie innerhalb weniger Wochen dann alle weg.

Anfangs fiel mir das Rausgehen schwer, weil entweder die Leute auf der Straße, die ich kenne, bzw. mich kennen, mich nicht mehr kannten, oder doch kannten, aber meinten, sie hätten mich jetzt fast nicht mehr erkannt. Gerade bei Halbbekannten oder Vierteljahrsbekannten geht das so. Leichter sind da die Begegnungen mit Menschen, die mich zum aller ersten Mal sehen. Für die bin ich, wie ich jetzt bin und gut.

Auch ich fremdle noch manchmal beim flüchtigen Blick in den Spiegel mit mir selbst. Letztens, als ich ein Herbert Achternbusch-Hörspiel gehört habe, kam eine Stelle vor, wo Achternbusch sich seinem Ich auch nicht ganz sicher ist. Da fühlte ich mich sofort angesprochen: Wenn er in die Donau schaut, am Glitzern auf der Donau, weiß er: Dass bin ich. Aber beim Blick auf die Stromrechnung, die ja auch Licht bringt, ist er sich seiner nicht so sicher.

Zum ersten Mal trat der Haarausfall wie gesagt vor über 10 Jahren auf, genauer war es 2010 während der Passionsspiele in Oberammergau. Ich hatte eine kleine Rolle und war mit den 12 Aposteln in einer trinkfreudigen Männergarderobe. Die einzige Frau war die Garderobenfrau Luzi. Eine, um paar Ecken, Verwandte von mir.
Kurz vor meinem Auftritt hatte sie mir immer die Kippa auf den Hinterkopf befestigt. Fast alle (bis auf die Römer natürlich) trugen so eine. Weil es bei den wenigsten von selber a uf dem Kopfgehalten hatte, half uns die Pongratz Luzi mit einer unauffälligen Haarklammer, die bei mir irgendwann gar nichts mehr half, weil ich am Hinterkopf eine kahle Stelle hatte.
„Du weast bladdat“, hat sie mir öfter gesagt, was ich überhörte, weil mir das beim Spiegelblick von vorne nie aufgefallen ist.

In Oberammergau ist das Thema Haare, wenn Passionsspiele sind, ja ähnlich präsent wie beim Bund – nur anders rum. Alle Mitspielenden lassen sich 20 Monate lang die Haare wachsen. Der, der sich heimlich seine Haare stutzt, tanzt aus der Reihe und hält sich nicht an die Regeln. Wenn dann ein halbes Jahr vor Spielbeginn die Rollen bekannt gegeben werden, dürfen sich Pilatus und die gepflogenen Römer sowie das Orchester und der Chor die Haare schneiden, nur das Volk Israel verwuchert von Tag zu Tag mehr.
Da ist auch ein bissl Stolz dabei. Man vergleicht den Bartwuchs und trägt die Mähne mit Inbrunst bis nach knapp zwei Jahren am letzten Spieltag, in manchen Garderoben mit viel Alkohol, die ganze Haarwolle runterkommt.

Anders ist das mit den Haaren in den übrigen Jahren. Ich komme aus einer Trachtenvereins-Familie und als Sohn vom Trachtenvorstand ging es bei uns immer besonders genau her. Das bayerische Gewand hatte damals militärische Ausmaße. Dass ja keine Zotteln unterm Trachtenhut über den Ohrwaschln heraushängen!
Jetzt gerade wäre ich der Muster-Trachtler schlechthin.

Zurzeit komme ich den Fragen nicht aus: Hast dich rasiert? Jetzt wo’s so kalt ist. Geht’s da ned guad?
Meistens winke ich dann ab, oder lache verlegen.
Es ist nicht leicht zu erklären, weil es wenig zu erklären gibt. Sie sind halt einfach weg. Ich würde es ja gerne ändern, doch das ist bei auto-immunen Sachen bekanntlich nicht so einfach. An dieser Alopecia sind 1,5 Millionen in Deutschland betroffen, aber gibt bisher wenig Studien dazu.
Überhaupt sind laut Krankenkassen Haare ein Lifestyle-Thema. Außer bei Frauen, da werden Naturhaar-Perücken, anders als bei Männern, zu einem Teil erstattet. Frauen sind quasi medizinisch verpflichtet perfekte Haare zu haben, während es bei uns Männern mehr oder weniger egal ist.

Haare sind doch für alle irgendwie ein kompliziertes Thema. Es geht ja nicht nur drum Haare zu haben, man muss sie auch noch an der richtigen Stelle haben.
Männer, Bart: Ja. Aber nur dicht.
Frauen, Bart: Nein.
Frauen unter den Achseln, rasieren erlaubt, an den Beinen ebenso. Wimpern gerne für alle schön und lang.

Was ich also nur sagen wollte ist:
Ich bin’s immer noch. Maxi Pongratz, Musiker, Akkordeonspieler, 80 Kilo schwer, 1,97 groß. Ohne Haare 1,96.

Maxi Pongratz 2023, photo by Tibor Bozi