Medan - ein Bericht auf der Suche nach dem Epilog
Jacob Ott
Es scheint mir, für das Vorankommen meiner Überlegungen unumgänglich, eine Reise nach Medan anzutreten und es wäre hilfreich, dich, als Rechercheassistent verkleidet, bei diesem Unterfangen dabei zu haben. Wir werden unteranderem die Architektur von Tabakblättern, Ölpalmen, Rückenschmerzen, Durchfällen, Sonnenbränden und Mückenstichen, untersuchen. So steht es auf meinem Zettel, als ich noch bei der Impfberatung im Tropeninstitut am Basler Äschenplatz sitze – kurz nachdem ich die Einladung dankend angenommen habe – und versuche, mir vorzustellen, wie sich Rechercheassistenten unter solchen Umständen wohl bewegen. Das Wartezimmer ist eng, und ich schlage mir bei meinen ersten Gehübungen das Schienbein an einem Spieltisch für geimpfte Kinder an.

Als wir am Bahnhof in Medan ankommen, sitzen drei uniformierte Security Guards an einem Klapptisch in der Empfangshalle. Um sie herum ist eine PA-Anlage aufgebaut. Der Guard in der Mitte hält ein Mikrofon in der Hand. Die herzzerreißende Karaoke-Ballade, die er mit ausdruckslosem Gesicht und eingesunkener Haltung singt, erfüllt die nächtliche Station und versüßt uns die überwältigende Ankunft. Am Morgen mache ich ein paar erste Bewegungsübungen als Rechercheassitent. Dabei schwenke ich vorsichtig ein Notizbuch in meiner Hand hin und her, ohne dass der Kugelschreiber herunter fällt. Auf dem weitläufigen Universitätsgelände der USU entlässt uns der Grab-Fahrer in die heiß-feuchte Mittagssonne, und wir hechten schnell in in den lebensrettenden hauch einer Klimaanlage, die wir im Inneren eines nahgelegen, gedrungenen Gebäudes finden. Darin haben sich auch bereits Professor Budi, Kiki und Rasyid eingefunden, die uns – mit kleinen Wasserfalschen, scharfen Snacks und wirklich köstlichen Erdnüssen ausgestattet – bereits erwarten. Die drei Historiker schreiben am laufenden Band wissenschaftliche Artikel über fast alles was die koloniale und postkoloniale Geschichte Nord-Sumatras betrifft, mit Schwerpunkten auf Stadtentwicklung, Gesundheitswesen und Umwelt, wobei sie insbesondere die sozialen Folgen kolonialer Infrastrukturpolitik beleuchten; Notiere ich mir auf meinem Zettel. Es wird sich über die Arbeit ausgetauscht, Field Trips werden geplant, wir streifen durch die Stadt. „Hello Mister“, ruft die Stadt zurück. Wir balancieren über den manchmal eher schmalen Streifen zwischen Häusern, Pflanzen, Essensständen und Motorrollern, und ich versuche weiterhin, alles auf meinem Zettel zu notieren.

Gummi war hier mal ein Geruch der jetzt leer steht, zerfällt und von allerlei anderem Grünzeug ausgefüllt wird. Naturkautschuk, Latex, Pulut – klebrige Materialien, spreche ich laut aus. Das AVROS Haus (Algemeene Vereeniging van Rubberplanters ter Oostkust van Sumatra) beherbergt eines der vielzähligen Museum für Plantagengeschichte in der Stadt. Wie auch der Maimun-Palast dessen Besichtigung mir sehr oft ans Herz gelegt wird, zu welcher es auf dieser Reise aber nie kommt, obwohl mir auch gesagt wird, dass der Palast vom Sultan von Deli zwischen 1887 und 1891 erbaut wurde und sowohl malaiische, islamische, indische wie auch spanische und italienische Architekturelemente in sich vereint. Dafür besuchen wir aber den historischen Flügel des Hotel de Boer, wo vielleicht mal Mata Hari übernachtet haben soll, der jetzt aber –bis auf ein paar antike Möbel – leer zu stehen scheint, modrig riecht und mich an einen fiesen Traum erinnert. Das vorzügliche buddhistische Mittagessen mit Socrates ist so scharf, es brennt mir ein kreisrundes Loch in die Hüfte und anstelle der Häuser, in denen früher Tabakblätter verwaltet wurden stehen heute vor allem massive Hotelbetonglasriegel und Shoppingmalls, in denen sich die Menschen gerne AC-tiefgefreiten lassen. Nochmal zurück zur Tabakverwaltung. Nachdem der Regenwald und alles andere Unerwünschte bei Seite geschafft worden war, wurde im Sultanat Deli auf den großen Plantagen der europäischen Kolonialunternehmer zuerst Tabak gepflanzt, bis der internationale Markt zusammenbrach. Darauf folgen KZKTK. Das habe ich hier mal für KautschukZuckerKaffeeTeeKakao abgekürzt. KZKTK musste inzwischen wieder Häusern, Straßen, 2,5 Millionen Menschen, und vor allem unzähligen Ölpalmen weichen. Nur das Medaner Fußballclublogo raucht noch stolz. Ein paar Stadtteile heißen heute noch Säntis oder Helvetia, weil viele der ursprünglichen Tabakplantagen von Schweizer Unternehmern wie Karl Krüsi, Albert Breker oder Karl Fürchtegott Grob (K F G) gegründet wurden.
“Deli war der Name für das ganze Plantagengebiet, das später auch das nördlich gelegene Sultanat Langkat und im Süden die Sultanate Serdang, Padang, Bedagei und Asahan umfasste. Alle diese Sultanate waren damals hauptsächlich durch die Flüsse erschlossen. Zwischen den Flüssen erstreckte sich Urwald, den Malaien und Batak, ein Volksstamm im Norden Sumatras, extensiv bewirtschafteten. Sie bauten Reis und Gewürze für den Export (Pfeffer und Muskat) an und nutzten wilde Früchte und Pflanzen. Die Batak wohnten am Fusse der Berge und waren im Gegensatz zu den muslimischen Malaien in den Tief - ebenen animistisch […] Darauf kommen wir weiter unten nochmals zurück”.
Schreibt Andreas Zangger, in seinem Text: Die Geschichte vom schnellen Geld
Will, den wir auf der Reise treffen, erzählt mir davon, wie K F G sich um 1900 in Zürich die exotisch anmutende Villa Patumba erbauen ließ, die nach einer seiner Plantagen benannt war. Das Haus – mit tropischen Ornamenten und einem Bauplan, der koloniale Fantasien materialisierte – wurde von den Zürcher:innen als geschmacklos, prahlerisch und kulturell fremd empfunden, das nicht zur protestantisch-nüchternen Stadt passen wollte. Nach Grobs Tod wollte seine Witwe nichts mehr damit zu tun haben und schenkte es schnell der Stadt. Heute beherbergt die Villa den Schweizer Heimatschutz.
Jetzt schreibe ich noch vom schwitzen, weil sich gerade so eine schweissnasse Stille in meinem Kopf befindet. Eine Stille, die sich von außen her durch meine Ohren in mich hinein presst. Das Ungewöhnliche daran ist, dass mich diese Stille an einen trockenen Abend erinnert, obwohl die Abende in Medan nie trocken waren. Schon die Nachmittage waren stets aufgeladen mit einem spürbar nassen Drücken von oben, als hätten sich die Wolken zu gierig mit Feuchtigkeiten befüllt. Aufgebauscht und müde, kurz davor, ihren Regen in die Welt zu gebären, stützen sie sich mit ganzem Gewicht vom Himmel herab auf meine Schultern. Mit einem aufgespannten Schirm versuche ich, ihre widerlich dampfende Aufdringlichkeit von mir fern zu halten, auch wenn mir dabei vor Anstrengung der eigene Schweiss den Rücken hinunterstürz, bis die Wolkengebilde ihre Form und Haltung verlieren, in sich zusammensacken, ihr Wasser auf mich nieder speien und meinen Schirm in Fetzen reissen. Die Strasse unter mir wird von unzähligen eifrigen Bächen davon getragen. Ich versinke in einem Schlammloch, rutsche durch die Kanalisation und werde – von einem blubbern begleitet – in der Toilette von Zimmer 1182 des Adimulia Hotel wieder hochgespült.

Ansonsten ist das Wetter erstaunlich stabil: 33 Grad Celsius, 80 % Luftfeuchtigkeit, am Abend eben Regen. Ich habe wirklich nie trockene Hände, seit wir hier sind. Und mir fällt auf, dass viele Menschen in dieser Gegend sehr schöne Hände haben. Medan könnte als Handkurort Karriere machen. Vielleicht leben deshalb so viele Menschen hier. Ich habe mich schon gefragt, was die Leute nach Medan zieht. Mit den ursprünglichen Besiedlungstheorien Südostasiens kenne ich mich leider nicht besonders gut aus, aber wenn wir von den letzten zweihundert Jahren sprechen, dann kamen neben den bereits ansässigen Batak und Malaien wohl die meisten der heute in Medan lebenden Menschen im Zusammenhang mit der Plantagenwirtschaft hierher. Da hat es viel internationale Arbeitskraft gebraucht. Jetzt gibt es einen beindruckenden Tempelmix: Es gibt hinduistische Tempel, Moscheen, buddhistische Tempel, taoistische Schreine und Christliche Karo-Batak Kirchen wie die Gereja HKBP (Batak Protestant Church) u. v. m. Die Geräuschlandschaft Medans setzt sich wie folgt zusammen: Rollerhupen, Karaoke, herzmassierendes Motorenknattern in allen Frequenzen, Vogelrufen, Gebetsgesänge der Muazin aus den Lautsprechern der Minarette und der prasselnde Regen auf den Dächern. Auf den Straßen bewegt sich ein nie abreißender Fluss hoch diverser Gefährte und Arten, diese zu manövrieren. Eine Straße zu überqueren fühlt sich für mich jedes Mal an wie vom Zehner zu springen.
Wir besuchen mal wieder das Palmöl-Museum. Wir essen Palmöl-Schokolade, Palmöl-Margarine, tragen Palmöl-Schuhe. Ich verfasse ein Palmöl-Lied das ich auf das Palmöl-Papier des museums schreibe:
m’n’m’n’m’n’n’m’ö
Röll Röll Röll. pöllö.
m’n’m’n’m’n’n’möllö möllö
panalöl löl löl löl panalöl löl löl löl panalöl löl löl löl
plmp plmp plmp ö brrt brrt brrt ö
1ööö.-
2ööö.-
3ööö.-
4ööö.-
ö u ö
Ö
Palmöl Möbel, Kerzen, Seifen, Petroleum, Einkaufstaschen, eingelegte Ölpalmherzen, Palmöl-Goreng. Jetzt fällt mir nichtmehr mehr ein weil ich gerade mit geschlossenen Augen auf dem Liegestuhl eines Barbiers liege, und davon aus meinen Gedanken gerissen werde, dass mein Gesicht überraschender Weise mit Kakao eingecremt und meine Hände mit Palmöl massiert werden; aber vom Satelliten aus betrachtet ist Sumatra sehr grün. Doch wenn wir näher an die scheinbar saftigen Wälder heranzoomen, lösen sie sich in sternförmige, pixelartige Raster auf: eine hyperstrukturierte Palmöl-Insel.

Epilog:
Im Auto sitzend, auf der Autobahn durch endlose Palmölplantagen fahrend, versuche ich mir vorzustellen, wo all dieses Öl letztlich landet. Die Welt, so scheint es, will eingeölt werden. Und Indonesien hat sich aus Gründen, die zugleich tragisch und pragmatisch sind damit abgefunden diesen Traum zu erfüllen. Die ehemaligen Schweizer Tabakplantagen spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle in der Vorbereitung dieser Entwicklung. Heute importiert die Schweiz rund 100.000 Tonnen Palmöl pro Jahr. Schweizer Banken und Unternehmen investieren in die indonesische Palmölproduktion. Auch das scheint zunächst eine neutrale Tatsache zu sein, und ich versuche mir vorzustellen, wie ich diese Umstände für mich innerhalb einer europäischen Landschaft weniger neutral und abstrakt darstellen könnte.
Würde man die gesamte jährliche Weltproduktion von Palmöl, etwa 79 Millionen Tonnen, gleichmäßig über die Schweiz verteilen, entstünde eine Ölschicht von ungefähr 2,15 Millimetern. Das wäre nicht einmal ein Finger breit, aber spürbar. Und wenn ich mir das so vorstelle, kommt unweigerlich die Frage auf: Was geschieht in den Bergen?
Rohes Palmöl ist leuchtend orange und viskos, aber nicht unbeweglich. Es ist dicker als Wasser, aber bei ca 30 Grad Celsius, wird es flüssig. Die Schweiz ist voller steiler Flächen. An diesen Hängen würde das Öl nicht wie Wasser in einer Flut herabstürzen, sondern langsam, zäh und widerwillig hinabgleiten und müde schimmern. Es würde sich an Grashalmen verfangen, an Steinkanten sammeln, und an den Zäunen alpiner Weiden hängen. In schattigen, kühleren Bereichen würde es wieder gerinnen und weißlich, wachsartig festsitzen. In den Tälern, Senken, Flussbetten, im Rheintal zum Beispiel, würde das Öl zu einem dicken Brei zusammenfließen. Felder, Straßen, Dörfer: alles wäre voller kleiner Ölseen. Pfützen, ölige Becken, stillstehende, schmierige Tümpel. Die Straßen wären rutschig und Gummistiefel würden nur so darüber schlittern. Die Kanalisation würde verstopfen. Auf Bächen und Seen läge ein dünner Film. Auch auf dem Zürichsee. Und im Abendlicht würde all das schimmern wie Bronze. Manche Niederländer:innen wären sicher neidisch auf ein derart orangefarbenes Land.