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Es ist grün, es ist magenta und vielleicht wird es einmal blau sein – Versuch einer literarischen Ausstellungskritik

Jonathan Mink

Foto: Dominik Dresel

Es ist dann doch noch Sommer geworden. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. So, wie du erwachsen geworden bist, oder so etwas Ähnliches. Das kennst du hier ja alles noch aus deiner Kindheit. Den Zeppelin-Spielplatz, das Museum, den grossen, grünen See. Heute ist Föhn. Bei Föhn kann man von hier aus bis zu den Alpen sehen. Da rüber, mit dem Blick dem auslaufenden Katamaran folgend, über den See hinweg liegt Arbon, dahinter St. Gallen und dann kommt bald der Säntis. Wenn du dich ganz weit über das Promenadengeländer lehnst und den Hals reckst, dann kannst du vielleicht Bregenz sehen, dahinter Dornbirn und dahinter wieder die Berge. Zwischen Dornbirn und Bregenz liegt Lustenau. Der Ort, in dem du einmal für einige Wochen auf einem Bauernhof gelebt und Paprikas angepflanzt hast. Das erste Mal länger als nur ein paar Stunden oder Tage weg vom Elternhaus. Das erste Mal selbst ein Abendessen zubereiten, der Gang zum Supermarkt noch ein kleines Abenteuer.

Etwas mehr als zehn Jahre später erfährst du, dass fast einhundert Jahre vorher eine junge Malerin aus Lustenau auszog, um ihrerseits Abenteuer in der Fremde zu erleben. Stephanie Hollenstein zog nach München, um in der grossen Stadt Malerei zu studieren. 1915 liess sie es sich nicht nehmen, wie viele ihrer männlichen Kollegen begeistert zu sein vom Krieg. Zwar studierte sie im späten 19. Jahrhundert als Frau Malerei und liebte als Frau öffentlich Frauen, aber sie konnte doch nicht als Frau in den Krieg ziehen. Also zog sie sich den Frauennamen aus, die Uniform der Vorarlberger Standschützen an und zog als Stephan nach Tirol an die Südfront.

Foto: Dominik Dresel

Dir tropft etwas Erdbeereis auf die Hand. Langsam lässt du den See hinter dir und läufst in Richtung des Kunstvereins. Drinnen, auf der Wand tummeln sich Fischwesen, Mischwesen, Vogelwesen, feige Wesen, mutige Wesen, stolze und beschämte Wesen. Deine Augen gleiten über diese Weder-noch-Körper, die trotz ihrer Zwischenform gänzlich präsent sind. Halb Mensch, halb Fisch. Wie Stephanie. Halb Mann, halb Frau, halb Malerin, halb Soldatin. Wie du, halb froh und halb traurig, wieder hier zu sein. Wie der Blick über den See. Halb Österreich, halb Schweiz. Wie die zwei Figuren vor deinen Augen. Halb liebkosen sie sich, halb bringen sie sich um. Ihre Schwanzflosse wickelt sich umeinander, um unten dann doch wieder zu einer zu werden. Vielleicht also doch ganz Mann und ganz Frau und ganz fröhlich und ganz traurig und alles zur gleichen Zeit. Die Wellenhaare einer Figur, der Figur des Narziss‘ (oder der Narziss), führen dich sanft um die Ecke. Vor dir eine Skulptur. Übereinandergeschlagene Beine aus blau-lila-pinkem Silikon. Netze, die von der Figur aus Richtung Wand gezogen werden. Sind die Beine im Netz gefangen? Hat sich das Fischwesen in den Fängen des Fischers verirrt? Oder ist das nur die Haut, die abgelegte Haut der bereits entflohenen Person?

Du denkst an den Blick auf dein Elternhaus, an den Blick auf dein Elternhaus aus dem staubigen Heckfenster, halb versperrt durch Umzugkartons, denkst an den Blick auf dein Elternhaus, als dich dein Vater in dem kleinen Suzuki in deine neue Heimat brachte. Endlich weg aus der Maisfelder-Alpenpanorama-Speiseeis-Schwimmbad-Tristesse. Welche Haut hast du zurückgelassen? Welche Haut hast du zurückgelassen hinter dem Feuerwehrhaus, im Maisfeld, in der abgestandenen Luft zahnarzt-grüner Klassenzimmer, am hölzernen Tresen der kleinen Kneipe? Leise Stimmen locken dich aus Lautsprechern in den ersten Stock. Du sitzt in dem so leer wirkenden Raum. Das pinke Licht hier lässt die Räume unten grün aussehen, wie den See. Eine Diskokugel wirft kleine Lichtreflexionen an die Wände und auf den Boden. Sie wirft Lichtreflexionen auf deinen Körper wie der grüne See im Sommer. Die Stimme, die um dich herum wabert, singt vom Wasser, der Verführung, vom Verlassen werden und der Liebe. Sie wandert langsam durch den Raum, löst sich auf und setzt sich an anderer Stelle wieder zusammen. Wenn du die Augen schliesst, meinst du, sie fast wie einen Windstoss auf der Haut spüren zu können. Du blinzelst in die Lichtreflexionen und denkst an den letzten Tag am grossen, grünen See. Du denkst daran, wer du damals warst. Und wer du heute bist. Wie viele du dazwischen warst und wie viele du noch sein wirst. Nun schwimmst du mit den Wesen durch den grün werdenden Raum.


Frag mich nicht wie spät es ist, wir kennen hier keine Zeit
Es ist grün, es ist magenta, und vielleicht wird es einmal blau sein
Du Bist
Aber du musst niemand sein

Die Ausstellung HEAVY WATER (floated through her winters and summers) von Tamara Goehringer ist noch bis zum 23.06.2024 in Kunstverein Friedrichshafen zu sehen.

Foto: Dominik Dresel

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass Stephanie Hollenstein nicht nur eine einflussreiche Malerin, kurzzeitig Soldatin und homosexuell war. Sie war auch überzeugte Nationalsozialistin und Antisemitin. Dieser Umstand hat keinen Eingang in den Text gefunden, soll aber auch nicht unerwähnt bleiben. Mehr zu Stephanie Hollenstein, ihrer Sammlung und dem (sehr schönen) Ausstellungsraum findet ihr hier:

https://dock20.lustenau.at/de