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Analoge und Digitale Archive

von Till Langschied für Q.U.I.C.H.E. Kollektiv

DOCK wird 15 Jahre alt. Damit ist es im selben Alter, in dem Miley Cyrus ihre Autobiografie schrieb. Vielleicht also ein gutes Alter, um ein wenig zurückzuschauen und um dann mit neuer Wucht in die Zukunft zu starten. Das Erreichen von 15 Lebensjahren ist bei vielen Personen ein Moment der Neuorientierung. Dieses In-die-Welt-geworfen-sein, dieses In-die-Wirklichkeit-gestossen-werden bekommt eine eher taktile Qualität, wenn man 15 Jahre alt wird. In diesem Schlüsseljahr der Pubertät von Menschen entwickelt das Hirn grössere Mengen an sogenannter weisser Substanz und erreicht mit seiner Denkfähigkeit Erwachsenenniveau. Es ist jetzt mehr denn je Potential da, um zu denken und um die eigenen, vorher unbekannten Fähigkeiten zu entfalten. Es ist ein Alter, in dem vieles neu und undefiniert ist. Eine Zeit, die zwischen den Welten liegt. Wie die Entwicklungsforscherin B. Spears schreibt: «I am not a girl, not yet a woman.»

DOCK begibt sich, ganz selbstfinderisch, zu seinem Jubiläum für drei Jahre auf eine selbstreflektierende Reise, um sich in der Stadt, der Kunstlandschaft und im Netzwerk der in seinem Archiv dokumentierten Künstler*innen neu zu sortieren. Das physische und digitale Kunstarchiv enthält aktuell etwa 290 Positionen von Kunstschaffenden verschiedener Disziplinen. Im Raum an der Klybeckstrasse wird diese Zahl an Kreativen ganz haptisch erfahrbar, wenn man die grauen Kartonboxen im orangen Metallgestell bewundert, von denen jede einzelne das Schaffen und das künstlerische Wesen einer Person beinhalten soll. Fast, als wären diese Boxen Wunderlampen, aus denen, wenn man kräftig an ihrer rauen Oberfläche reibt, der Geist der jeweiligen kunstschaffenden Person herauszischen würde. Wie die Paraphysikforscherin C. Aguilera schreibt: «You gotta rub me the right way.»

Seit einigen Jahren ist das Archiv von DOCK auch digital auf dessen Website gespiegelt. Dies bringt für die Sichtbarmachung von lokalen Kunstakteur*innen, der sich die Kleinbasler Kleininstitution verpflichtet hat, viele Vorteile. So tauchen dank guter Programmierung die auf den DOCK-Website-Profilen hochgeladenen Bilder recht weit oben in der Bilderfunktion von Suchmaschinen auf. Die Verbindung aus analogem und digitalem Archiv zum Sammeln und Sichtbarmachen hat eine facettenreiche Spannung. Das Wechselspiel zwischen verschiedenen Speichermöglichkeiten wirft aber auch viele Fragen auf, gerade in Hinblick auf die Bewirtschaftung und die Zukunft des Archivs. Zu Beginn der dreijährigen Neufindungsphase steht DOCK daher auch unter dem Titel «RECONNECT». Man möchte die Möglichkeiten einer hybriden Netzwerkplattform ausloten. Was sind die Chancen und Grenzen von Archiven? Welche Vor- und Nachteile bringen physische und digitale Speicher- und Sichtbarmachungsmöglichkeiten? Muss man da nun einmal mehr die Fragen der Reproduktion von Kunstwerken von Walter Benjamin zitieren? Oder sind die Artefakte und Dokumente in den Boxen bereits ohnehin soweit den Konditionen von technischer Reproduzierbarkeit unterworfen (Benjamin selbst spricht ja gerne über Postkarten von Kunstwerken), dass es vielleicht kaum einen Unterschied macht, ob die Kunst im Kasten oder im Flimmerkasten reproduziert wird. Was passiert aber mit Kunst und einem Kunstnetzwerk, wenn es zunehmend digitalisiert wird? Können wir von einer Augmented-Reality-Erweiterung sprechen, wo das Digitale das Analoge unterstützt, augmentiert quasi, oder müssen wir diesen Prozess als Verdrängung deuten, in der die Wirklichkeit in Bits und Bytes komprimiert wird? Kann es uns passieren, dass wir beim Aufbrechen der Kunstraumräume mit dem digitalen Brecheisen alle den Halt und die Substanz verlieren, die uns Materialität geboten hatte? So wie die Sozialforscherin M. Cyrus schreibt: «All I wanted was to break your walls – all you ever did was wreck me.»

In einem Archiv und in der Art, wie es geführt wird, stellt sich auch immer die Frage nach der Beständigkeit und Sicherheit der Informationen, die dort beherbergt werden. Gerade wenn man an physische Orte wie DOCK mit höchst brennbaren Kartonschachteln denkt. Sofort fackelt vor dem geistigen Auge die Bibliothek von Alexandria ab, man sinniert, wie schnell Wissen verloren gehen kann. Die neuartigen und auch von DOCK anvisierten digitalen Archive sind endlos fragiler. Eine mit Bücher-PDF-bepackte externe Festplatte kann ich mit zwei Klicks in die absolute Leere formatieren; ich brenne durch ein Zucken meines Zeigefingers fünf Mal Alexandria nieder. Nicht nur das! Auch cloudbasierte Daten können flugs in Rauch aufgehen. Denn so magisch ephemer, wie uns die Tech-Konzerne suggerieren möchten, ist die Cloud gar nicht. 2021 brannte beispielsweise etwas rheinabwärts in der Nähe von Strassburg das Datenzentrum des französischen Cloud-Anbieters OVHcloud komplett nieder. Da verkohlte archiviertes Wissen, während das schmelzende Lithium aus den Festplatten tropfte. Archaische Kräfte verschlingen unsere Kultur ungeachtet des technischen Fortschritts. Wie die Katastrophenforscherin D. Parton schreibt: «Baby, I'm burnin' out of control. Baby, I'm burnin', body and soul.»

Doch sind es leider nicht nur Unfälle, die dafür sorgen, dass Bücher oder andere Datenträger in Flammen aufgehen. Das Verbrennen von Schriften ist historisch immer wieder eine brutale Methode gewesen, um Ungewolltes mit Vergessen zu strafen. Bevor ein Grossteil des Wissens der Menschheit digitalisiert und damit dezentralisiert wurde, war das Verbrennen von Büchern tatsächlich ein Akt, mit dem man vermeintlich Wissen aus der Welt schaffen konnte. Heute werden gelegentlich auch noch Bücher verbrannt. Dies hat dann aber mehr einen symbolischen Charakter. Rassistisch motivierte Koranverbrennende bilden sich nicht ein, dass sie die Worte des Propheten wirklich aus der Welt schaffen. Vielmehr sind die Flammen dieser Gewaltorgien ein Symbol, dem die Verblendeten wohl beinahe eine alchemistische Qualität zusprechen. Das Feuer wird symbolisch instrumentalisiert in seinem Verhältnis zum Wissen. Es ist nicht das Gleiche wie eine öffentliche Bücherverbrennung, wenn man ein Koran-PDF von der Festplatte löscht. Es geht um die Bilder, die hier erzeugt werden. Denn es geht wie immer auch um Ästhetik. Bücher, Dokumente und Archive im Generellen haben, neben ihres Inhalts, vor allem auch eine eindrückliche Qualität in ihrer Haptik und Optik. Marshall McLuhan massiert uns durch die jeweiligen Charaktereigenschaften eines Datenträgers in vom Inhalt nur teilweise gestreifte Dimensionen. Es ist kein Wunder, dass das Kindl den Buchhandel nicht final zugrunde gerichtet hat. Ganz im Gegenteil: Buchverkaufszahlen steigen in ungewohnte Höhen, dank BookTok (TikTok-Influencer, die Bücher besprechen). Das Buch ist nicht nur etwas, das man liest. Es ist etwas, womit sich die stilbewusste GenZ zu schmücken weiss. Das Phänomen ist natürlich nach oben endlos skalierbar. Reiche Menschen können Bücherschrank-Kurator*innen engagieren, die eine auf die Persönlichkeit abgestimmte Bücherwand zusammenstellen, ohne dass die Auftraggeber*in sich die Mühe machen müsste, etwas davon zu lesen. Wissensbehälter sind mehr als das Wissen, das sie tragen. Sie sind Artefakte, die mit einer gewissen Aura beseelt sein können, weil wir sie unterbewusst im Rahmen kultureller Ideologie dort verankern. Ein Archiv ist mehr als sein Inhalt. Es ist eine Form, die den Wert des Inhaltes unterstreicht (oder im schlechteren Fall: relativiert). Was bedeutet das für die Digitalisierung eines analogen Künstler*innenarchivs? Kann man die Ästhetik der Kartonbox behalten, erhöhen, ergänzen oder untergraben durch einen digitalen Gegenpol der gesammelten Künstler*innenprofile? Oder ist die digitale Ästhetik völlig losgelöst von ihrem analogen Gegenstück? Ist sie ein digitalisiertes, online-zugreifbares Archiv wie ein Schiff, dessen Anker eine analoge Datenbank ist (wohl bedenkend, dass ein Anker Halt gibt, aber auch bremst)? Oder ist sie wie ein Satellit, der frei um den Planeten kreisend Signale funkt? Wie die Medienforscherin J. Wagner schreibt: «Piep, piep kleiner Satellit, sag ihm, dass es mich noch gibt.»

Der Fokus der Archivtätigkeit muss aber am Ende wohl gar nicht nur darauf gelegt werden, sondern vielmehr auf das Funken zwischen Satellit und Station. Archive sind zwar Orte, an denen bewahrt wird, aber sie sind nichts ohne den Austausch, den sie ermöglichen. Sie sind nur erstarrte Zombieartefakte, wenn ihre Zugänglichkeit nicht gesichert ist. Ihre Veränderbarkeit und Interaktivität im Diskurs machen sie komplex und vielseitig. Dies erlaubt eine gelebte Praxis, in der das Archiv Medium zur Kommunikation wird und nicht nur ein verschlossener Schatz in einer tiefen Höhle bleibt. Hierbei kann eine digitalisierte Archiv-Erweiterung ungemein helfen. Aktualisierbarkeit und Hyperlink-Verknüpfung sind Kernkompetenzen des World Wide Webs, das unsere Welt und unser Denken so prägt. Doch, wie das Abbrennen des Serverzentrums zeigt: auch digitalisierte Wirklichkeiten sind nicht in der Lage, eine Totalität an Präsenz und Sicherheit zu geben. Die Abhängigkeit von Verbindungsmöglichkeiten und Interface-Zugänglichkeit spielt auch eine Rolle in der Aktivierbarkeit eines Archivs. Ein Austausch ist in keinem Fall selbstverständlich. Wie kann also jenseits von jedweder Speicherart, jenseits von digitalen Erweiterungen und analogen Grundfesten die Langlebigkeit und der aktive Austausch von archiviertem Wissen gesichert werden? Wie kann man die Performativität von Archivarbeit und -aktualisierung sicherstellen? Wie kann in all dem noch die Ästhetik und Aura eines Inhaltes so inszeniert werden, dass der Inhalt von seiner Form profitiert?

Kulturen haben unterschiedliche Methoden der Wissensbehütung und -weitergabe entwickelt. Geschriebenes, und damit quasi in Gegenständen Gespeichertes, bildet nur eine Komponente. Kann man sich ein Archiv wie das von DOCK als objektUNgebundenen Wissensschatz vorstellen, der durch performative Gesten erhalten und geteilt wird? Vielleicht kann man die Vision skizzieren, dass Informationen des DOCK-Archivs als immaterielles Gut weitergegeben werden, etwa in Form von sehr einprägsamen Liedtexten. Statt einer Web-Unterseite oder einer Kartonbox würde der Archivbestand in Ohrwurmform quasi parasitär durch die Stadt und darüber hinaus gestreut. Er würde analog viral gehen können. An den Lagerfeuern in den Langen Erlen würden Gassenhauer gesungen, die über die schöpferischen Ergüsse der Basler Kunstschaffenden berichten. Vielleicht lernten Kinski-Kinder das ABC nach den Namen von Künstler*innen und tanzten dazu. Es sei mit diesen Fragen nicht unterstellt, dass andere Archivformen unnötig oder überholt seien. Die Fragen möchten aber an der Substanz des Archives kitzeln und fragen, wie man einen solchen Schatz an Wissen und Bildern verwalten und verwandeln kann. Das Digitale besticht mit seinen Möglichkeiten und scheint eine einfache Antwort auf viele Fragen zu sein, aber vielleicht gibt es jenseits von Proxyservern und Cloudzentren noch andere dezentralisierte, sich ständig selbst überschreibende Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten, in die man sich träumen und mit denen man sich (re-)connecten kann.